Der Sohn und das Schneeflöckchen

Dijana und ihre jüngere Schwester Dada wachsen in Sarajevo auf. Dada ist zart, liebt das Ballett und wird in der Familie »Schneeflöckchen« genannt. Die selbstbewusste Dijana dagegen nennt der Vater stets »Sohn«.

1992, als die Stadt belagert wird, sind die Schwestern achtzehn und sechzehn Jahre alt. Lebensmittel werden knapp, im Stadtzentrum terrorisieren Heckenschützen Passanten.

An einer bestimmten Stelle auf der Kreuzung weiß ich, dass ich in seinem Schussfeld bin. Von da an erwarte ich, dass er mich trifft, am Bein, am Hals, im Gesicht, am Bauch, am Rücken?
VERNESA BERBO - Der Sohn und das Schneeflöckchen

Und doch geht das Leben irgendwie weiter. Dada verliebt sich unsterblich in den Nachbarjungen Mirza und der Vater landet mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus. Dijana wird klar, dass es an ihr ist, die Familie lebend durch den Krieg zu bringen.

Doch bald landen sowohl Vater als auch »Sohn« gemeinsam an der Frontlinie in den Bergen. Während unten im Tal der ewige Nebel die Stadt zu ersticken droht, klammert sich Dada immer verzweifelter an Mirza …

Dada wäre tatsächlich lieber oben in den Bergen, denn der Nebel ist nur schön, wenn man nicht drinsteckt. Der berühmt berüchtigte Sarajevska magla fühlt sich wie eine Strafe an, er ist stickig, zäh, dicklich, klebrig, bewegt sich langsam wie eine riesige graue, hungrige Schnecke durch das Tal, verschluckt alles und beherrscht alle Gefühle.
VERNESA BERBO - Der Sohn und das Schneeflöckchen

Mut und Verzweiflung

Vernesa Berbo kennt, worüber sie schreibt: Sie hat selbst den Jugoslawienkrieg erlebt und kam 1993 als Kriegsflüchtling nach Berlin. Und in Berlin beginnt auch ihr Roman, der in klarer und poetischer Sprache von den Schrecken des Krieges im belagerten Sarajevo erzählt.

In Berlin des Jahres 2022 lernen wir zunächst die erwachsene Dada kennen, sie kümmert sich dort um die demente Rentnerin Isolde. Zwischen den beiden Frauen besteht ein starkes Band, denn auch Isolde ist von Kriegserlebnissen geprägt. Je vergesslicher die alte Frau wird, umso stärker taucht sie in den Berliner Kriegswinter von 1945 ein.

Und dann führt eine lange Rückblende zurück nach Sarajevo, in die frühen 1990er-Jahre. Mit Dijana tauchen wir ein in den Alltag einer Stadt, in der sich Nachbarn plötzlich als Feinde entpuppen.

Sie kommt am Postgebäude vorbei ... Jemand hat in großen Buchstaben ‚Das hier ist Serbien‘ an die Wand geschrieben. Leute bleiben geschockt und empört vor dem Graffito stehen. … Auf dem Weg nach Hause prangt das Graffito nach wie vor an der Wand, nur dass jemand darunter eine Antwort geschrieben hat: ‚Nein, du Depp, das hier ist die Post!‘
VERNESA BERBO - Der Sohn und das Schneeflöckchen

Bald wird die Stadt belagert. Hunger ist ein täglicher Begleiter, Menschen werden aus ihrem Wohnungen getrieben und vor aller Augen ermordet. Die Mutter verliert ihre Arbeit, der Vater wird krank. Der Alltag zerfällt, doch Dijanas Mut und Unerschrockenheit sichern ihrer Familie mehr als einmal das Überleben.

Vernesa Berbo findet eine kraftvolle Erzählstimme, die zwischen Sarkasmus, Trauer und Wut changiert und das Buch trotz seines schweren Themas so gut lesbar macht. »Der Sohn und das Schneeflöckchen« ist ein berührender Roman über Mitmenschlichkeit im Angesicht brutaler Gewalt, über Schwesternliebe und Teenagerträume in finsteren Zeiten, über bröckelnden familiären Zusammenhalt und hoffnungspendende Gesten der Fürsorge – jenseits von Kitsch oder Pathos.

Vernesa BerboDer Sohn und das Schneeflöckchen Frankfurter Verlagsanstalt 2025
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