Labyrinth

BuchcoverBoratin ist ein charismatischer junger Musiker, Nacht für Nacht spielt er mit seiner Bluesband in den Istanbuler Clubs. Doch jetzt wacht er nach einen Selbstmordversuch im Krankenhaus aus.

Man erzählt ihm, er sei auf der Bosporus-Brücke aus einem Taxi gestiegen – und gesprungen. Er selbst kann sich an nichts mehr erinnern. Nicht an diese Nacht, nicht an sein Leben, nicht an sich selbst.

Mir ... ist selbst mein Gesicht im Spiegel fremd. Ich gleiche einem leeren Blatt Papier. Ich habe kein Innen und kein Außen ... Die Tage verbringe ich damit, auf den Abend zu warten.
BURHAN SöMNEZ - Labyrinth

Mit einer gebrochenen Rippe und dröhnendem Kopf wird Boratin aus der Klinik entlassen. Er kehrt in seine Wohnung zurück, ein Zuhause, dass er nicht mehr als solches erkennt. Die altmodischen Möbel, die Gitarren an der Wand, die Schallplatten, nichts davon weckt Gefühle in ihm.

Dass er hier lebt, weiß Boratin von Bek. Dieser hat ihn zweimal im Krankenhaus besucht und gesagt, er sei Boratins Freund. Bek will Boratin wieder ins Leben helfen und ermuntert ihn, raus auf die Straße zu gehen.

Straßenhändler, lärmende Kinder, Taxis mit laut aufgedrehter Arabesk-Musik bevölkern die Gasse, ich fühle mich sicher in dieser Wohnung, von der ich nicht weiß, warum sie meine sein soll …
BURHAN SöMNEZ - Labyrinth

Doch Boratin bleibt rastlos, getrieben von der Suche nach sich selbst – und der Frage, was auf der Brücke geschah

Menschsein ohne Verbindung

Ein Sprung in die Tiefe wirft einen jungen, charismatischen Mann aus seinem bisherigen Leben und kappt alle Verbindungen.

Istanbul, BosporusAlles was Boratin scheinbar ausgemacht hat wird ihm nun zugetragen von Fremden: seine Leidenschaft für die Musik und die durchgefeierten Nächte; Freunde, für die er eintrat; die Frau, die er zuletzt liebte. Doch nichts davon kitzelt Emotionen hervor.

Früher gab es einen anderen Boratin, von dem alle reden. Jener Boratin begriff die Welt nicht durch Schauen, sondern durch Hören. Er sprach durch Lieder, dachte in Liedern.
BURHAN SöMNEZ - Labyrinth

Der schmale Roman tarnt sich als Stadtspaziergang und wirft dabei existenzielle Fragen auf: Was ist die Realität, wenn wir sie nicht spüren können? Ist es möglich, nur im Augenblick zu leben? Bestimmt die Vergangenheit unsere Identität? Wer sind wir, wenn wir uns in den Zuschreibungen anderer nicht erkennen?

Boratins Streifzug durch Istanbul ist ein vorsichtiges Herantasten an die Realität, ein Hinterfragen des ersten Anscheins und der Versuch, ein leeres Blatt mit Bedeutung zu füllen.

Zunächst, wenn man jung ist, malt man sich die Zukunft aus, entwirft Utopien, hegt Hoffnungen. Die Zukunft ist lang, und alles ist möglich. Gegen Ende des Lebens sind dann die Möglichkeiten ausprobiert und erschöpft.
BURHAN SöMNEZ - Labyrinth

Sönmez Sprache ist ebenso klar wie poetisch, ein Gedankenstrom, mit dem Boratin sich selbst in einer haltlosen Welt verortet. Das Rätsel um den Selbstmordversuch ist das Spannungsmoment das die Geschichte trägt, denn der Leser weiß niemals mehr als Boratin selbst.

Ein universeller Roman über das Menschsein im Angesicht von Isolation und existenzieller Krise, dem man viele Deutungen abgewinnen kann, mosaikartig komponiert und wunderbar übersetzt.

Burhan SönmezLabyrinth Sabine Adatepe btb 2020
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