Was wir scheinen

BuchcoverSommer 1975. Hannah Arendt geht auf die Siebzig zu. Ihre letzte Reise führt sie noch einmal in die Schweiz. Im beschaulichen Tegna will sie ausspannen und arbeiten.

Hannah genießt die Ruhe, die Natur, das gute Essen, aber auch die anregende Gesellschaft junger Menschen. Wie Matteo und Barbara, die mit ihr diskutieren und ihre Lebensfreude teilen.

Ein kleiner Stein, der auf der Bank lag, geriet in ihre Finger. Sonnenwarm. Seine Unterseite sah aus wie die obere. Bei den meisten Dingen dieser Welt war das ja anders. Wer denkt, weiß das. Denken heißt ja, Dinge umdrehen und auch die andere Seite anschauen.
HILDEGARD E. KELLER - Was wir scheinen

In Tegna verbringt Hannah entspannte Tage / Foto: Joris Egger [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia CommonsVom Tessin aus wandern Hannahs Gedanken in die Vergangenheit und rund um die Welt. Berlin, Paris, die Flucht nach Marseille, Lissabon und schließlich die Überfahrt in die USA.

In New York fängt Hannah mit ihrem zweiten Ehemann, Heinrich Blücher, ganz neu an. Energisch bemächtigt sie sich der neuen Sprache, wird Publizistin und schließlich Professorin.

Das Ehepaar wird zum Mittelpunkt eines Kreises europäischer Auswanderer, bald kommen neue, amerikanische Freunde hinzu. 1951 erhält Hannah Arendt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, es ist das Ende einer Zeit als Staatenlose. Die Erfahrung sitzt tief und wird ihr weiteres Werk prägen.

Zehn Jahre später wird Eichmann in Jerusalem vor Gericht gestellt und Hannah reist als Prozessbeobachterin nach Jerusalem. Zwei Jahre schreibt sie an ihrem »Bericht von der Banalität der Bösen«, dessen Veröffentlichung zu einer neuerlichen Zäsur in ihrem Leben wird.

In Jerusalem beobachtet Hannah Arendt den Eichmann-ProzessÜber Nacht wird sie berühmt, ungewollt eine öffentliche Person. Erneut verliert sie langjährige Freunde und steht im Zentrum einer erbitterten Kontroverse …

Für einen kurzen Augenblick spürte sie Bitterkeit, und auch in der Erinnerung war sie noch immer beißend und scharf. Alle hatte sie damals in den Wind kippen sehen, einen nach dem anderen, Freunde wie Bäume ohne Wurzeln ...
HILDEGARD E. KELLER - Was wir scheinen

Die Frau hinter dem Werk

Hannah Arendt und Günther Stern

Die Literaturwissenschaftlerin Hildegard E. Keller kennt sich aus mit dem Werk Hannah Arendts. In ihrem Roman macht sie diese außergewöhnliche Frau als Mensch sichtbar, erzählt in Rückblenden aus Arendts Leben, und taucht dabei tief in deren Gedanken- und Gefühlswelt ein.

Und dann hatte er gefragt: Wie ist es Ihnen denn ergangen? Erzählen Sie. Es war nur so aus ihr herausgesprudelt, seitenweise. So einfach ist Erlösung. Wir sind Erzählen und Zuhören.
HILDEGARD E. KELLER - Was wir scheinen

Bereits als junge jüdische Frau war Hannah Arendt eine leidenschaftliche Denkerin, doch ihre vielversprechende akademische Karriere wurde durch die Nazis abrupt beendet. 1933 emigrierte sie mit ihrem ersten Ehemann Günther Stern nach Paris.

Hannah Arendt und Heinrich erreichen New YorkKeller streift die folgenden Jahre der Flucht quer durch Europa, den bitteren Verlust zahlreicher Freunde, die Ankunft in New York und den Neubeginn in einem Land, dessen Sprache sie kaum spricht. Hannah beginnt zu publizieren, schreibt über Flucht und Staatenlosigkeit und arbeitet an ihren ersten großen Werk über Antisemitismus und totalitäre Regime.

Gerettet. Heinrich und sie und Tausende, die gestern ebenfalls von Bord gegangen waren. Das heißt, sofern sie die erforderlichen Papiere vorweisen konnten ... Staatenlose hatte keine Pässe, nur Einreisevisa und Affidavits …
HILDEGARD E. KELLER - Was wir scheinen

Der Roman entführt in Arendts intellektuelle Zirkel und vermittelt in Dialogen ein Gefühl dafür, wie Hannah Arendt dachte, diskutierte und auch stritt. Zwischen den Seiten blitzt die Energie und Unabhängigkeit dieser außergewöhnlichen Frau hervor, ihr Scharfsinn, ihre Neugier, ihr Talent für die Freundschaft, aber auch ihre Dickköpfigkeit. Und dazwischen immer wieder die Seelenverwandtschaft zu ihrem geliebten Heinrich.

Hannah Arendt und Heinrich Blücher

Die Erzählstimme strömt aus dem Innersten der Hauptfigur, lässt Gedankenflüsse zu und streut Erinnerungen an Momente mit Freunden ein. Was sowohl die große Stärke des Romans ist, als auch dessen Handicap.

Denn fast alle Personen werden nur mit Vornamen benannt, ohne Vorkenntnisse des Arendtschen Kosmos erschließt sich manche Szene nur schwer. Es wäre gut zu wissen, dass »Kurt« Hannahs väterlicher Freund Kurt Blumenfeld ist, der sich im Gegensatz zu ihr dem Zionismus verschrieb. Oder dass »Benji« Walter Benjamin ist, Cousin ihres ersten Ehemanns Günther, der sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Oder …

Die Aufzählung ließe sich noch lange fortführen, deshalb hätte eine angehängte Namensliste dem Roman gut getan. Aber ganz im Sinne Arendts muss man sich eben bei dieser Lektüre selbst bemühen. Entweder googelt man parallel, oder – was vielleicht mehr Freude und auch Erkenntnis bereitet – greift man vorbereitend oder parallel noch zu anderen Büchern.

Empfehlenswert sind zum Beispiel der Ausstellungskatalog »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert«, die Biografie »Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit« oder auch »Denkerin der Stunde: Über Hannah Arendt« als Kurzeinführung in ihr Werk. Eine gute Einstimmung ist auch Margarethe von Trottas Film »Hannah Arendt«.


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