Der Überläufer Wyrin ist seinem alten Leben entflohen. Ein neues Aussehen dank plastischer Chirurgie, eine neue Identität dank neuer Freunde. Doch die Vergangenheit holt ihn in einem Biergarten heim.
Ein kleiner Pieks nur, ein vermeintlicher Wespenstich. Der sich kurz darauf als Anschlag entpuppt. Der russische Geheimdienst hat Wyrin mit einem Nervengift eliminiert.
Entwickelt wurde der Kampfstoff auf einer sowjetischen Insel. Dort fand der russische Chemiker Kalitin einst seine Berufung, widmete sich der Perfektion des lautlosen Mordes. Sein Gift arbeitet schnell und hinterlässt keine Spuren.
Der Zerfall der Sowjetunion setzte jedoch einen Schlußstrich unter jene Epoche, auf die Kalitin jetzt wehmütig zurückblickt. Der Wissenschaftler floh von der Insel und setzte sich ab in den Westen.
Dort wird er für das russische Regime zur Gefahr, denn Kalitin ist einer der wenigen, der den Mord an Wyrin sofort durchschaut. Zwei russische Geheimdienstler werden auf ihn angesetzt und brechen auf nach Prag …
Vom Gulag zum Giftmord
Der Klapptentext kündigt das Buch als »literatischen Thriller« an, was gleichzeitig über- als auch untertrieben ist. Für einen Thriller fehlt es dem dem Roman an nervenzerreißender Suspense, stattdessen entpuppt sich die Geschichte als ausgefeiltes literarisches Gesellschaftsporträt.
In einprägsamen Bildern schlägt Sergej Lebedew den Bogen vom sowjetischen Gulag über »verbotene Städte« (in denen unter anderem an Kampfstoffen geforscht wurde), bis hin zu den russischen Giftmorden der Gegenwart.
Kalitins geliebte Insel erinnert an die Solowezki-Inseln, den Ursprung des sowjetischen Gulags. Dort geht der Chemiker über Leichen, schreckt auch vor Menschenversuchen nicht zurück und lässt Ehefrau Vera über die Klinge springen.
Der Ermordete Wyrin steht für die russische Gegenwart, der Giftanschlag auf den Staatsfeind erinnert an Attentate wie die auf Sergej Skripal oder Alexej Nawalny (obwohl das Buch im Original bereits 2019 erschien, ein Jahr vor dem Anschlag auf Nawalny).
Die Empathielosigkeit und Kälte seiner Protagonisten strömt dem Roman aus allen Poren, gelegentlich gemildert durch Passagen schwarzen Humors. Dieser tiefschwarze Grundton macht die Lektüre streckenweise schwer verdaulich. Und dennoch ist es ein lesenswertes, ebenso aktuelles wie zeitloses Buch.
Denn Sergej Lebedew erzählt eine universelle Geschichte, vom Gift staatlichen Terrors, das zuerst seine Opfer und dann eine Gesellschaft lähmt.